Die Mär von der unbedingten Notwendigkeit der Vergebung

So, wie sämtliche Bereiche des Lebens unterliegen auch die Wissenschaften gewissen „Moderichtungen“ und populären Strömungen. Die Psychologie bildet hier keine Ausnahme. Das, was man als Student in Hausarbeiten als „gängige Lehrmeinung“ herauszufiltern und zu bezeichnen lernt – da es diejenige ist, die es letztendlich unter all den vielen Theorien als einzig Wahre zu internalisieren und zu reproduzieren gilt – setzt sich im Therapie-Alltag methodisch durch und langt irgendwann auch als vermeintliches Faktum und Stein der Weisen in den Köpfen der Massen an.
Eine Theorie, die seit den 1980er Jahren ganz extreme Verbreitung gefunden hat, ist die, dass eine Heilung oder Linderung von Störungen, die ihre Ursache in verletzender Behandlung durch Mitmenschen haben (sei es sexueller Missbrauch in der Kindheit, körperliche Misshandlungen,  Vernachlässigung o.ä.) nur und ausschließlich durch das Instrument der „Vergebung“ zu erreichen sei.

Befreien durch Verzeihen?

Freiwillig und ohne Druck – so die Prämisse – sollte der Geschädigte zu der Erkenntnis kommen, dass es im eigenen Interesse an der Zeit sei, all seine Hassgefühle, seine Ablehnung und seine negativen Gedanken dem „Täter“ gegenüber fahren zu lassen. Diese Sinneswandlung wird von unzähligen Psychologen nicht nur als „befreiender“ Akt, sondern geradezu als Grundvoraussetzung jeder Heilung propagiert
Wer bereits selbst im Rahmen einer Therapie oder beim Versuch, sich eigenständig zu helfen, auf diese Anforderung gestoßen ist, hat möglicherweise auch irgendwo tief in sich drin einen heftigen Widerstand gegen diese Art der „Problemlösung“ verspürt. Vielleicht drängte sich ihm sogar ganz bewusst der Gedanke auf, dass es im Grunde genommen eine absolute Zumutung und ein großes Unrecht sei, den Peinigern zu verzeihen, die ihrerseits in den meisten Fällen ihr Leben völlig unbehelligt, selbstzufrieden und ohne Schuldbewusstsein weiterführen.

Zusätzliche Schuldgefühle

Wer sich einmal die Mühe macht, ein wenig auf den entsprechenden Foren im Internet zu recherchieren, wird feststellen, dass sich inzwischen unglaublich viele Betroffene zwischen der therapeutischen Forderung nach Vergebung und ihrer eigenen Aversion dagegen zerrieben fühlen. Je nach Schwere des Falles ein schier unlösbarer Widerspruch. Unzählige wollen wissen, wie und ob andere das schaffen. Nicht wenige empfinden das Vergeben-Müssen als wahnsinnigen Druck und entwickeln neben ihrer eigentlichen Problematik weitere Schuldgefühle und Komplexe, boykottieren sie durch ihren Unwillen oder ihre Unfähigkeit zu verzeihen doch quasi die erfolgreiche Behandlung und eigene Heilung.
Und, was man dabei natürlich auch niemals aus den Augen verlieren sollte, ist die moralische Ebene, die bei der Begrifflichkeit der „Vergebung“ oder des „Verzeihens“ stets mitschwingt. Nicht nur im religiösen Bereich wird „Vergebung“ schließlich als eine der höchsten Tugenden gepredigt. Auch im alltäglichen Umgang miteinander lernen wir von frühester Kindheit an, dass wir uns als „liebe, anständige Kinder“ gefälligst auch nach dem schlimmsten Streit wieder zu vertragen haben und zwar mit Handschlag und dem Wort „Entschuldigung“, (aber bitte nicht murmeln, sondern schön laut und deutlich sagen und das Gegenüber dabei anschauen.)

Zum Verzeihen gedrillt

Und noch etwas lernen wir bereits in diesen kindlichen Situationen: 1. Alles, was für die Umwelt zählt, ist, dass wieder Ruhe einkehrt und sich niemand durch die Tränen, den lautstarken Protest oder die Schmerzensäußerungen des Geschädigten belästigt fühlen muss. Eine Komponente, die leider auch bei der Behandlung von seelischen Störungen bei Jugendlichen und Erwachsenen häufig eine große Rolle spielt. Nicht wenige Betroffene fühlen sich genötigt, die irrwitzigsten Therapien inklusive Einnahme hoher Dosen von Psychopharmaka über sich ergehen zu lassen, um es ihrem Umfeld endlich recht zu machen, so zu werden, wie es erwartet wird, keinen Ärger mehr zu verursachen…
2. Wer sich unter Druck entschuldigt oder verzeiht, tut dies nicht aus ehrlicher Überzeugung und trägt neben einem bleibenden, unguten Gefühl dem Kontrahenten gegenüber auch noch das Gefühl der Ohnmacht mit ins eigene Erwachsenenleben hinein – eines der Gefühle, die uns meiner Meinung nach am häufigsten und schwersten erkranken lassen.
Verfechter des „Verzeihens um jeden Preis“ mögen jetzt einwenden, dass es sich ja dabei nicht um eine akute Handlung, sondern um einen langwierigen Prozess handele, der einzig und allein dem Wohl des Erkrankten dienen solle und dass die Fixierung auf Hassgefühle ausschließlich Kapazitäten raube, die zur Genesung und zum Aufbau eines glücklicheren Lebens gebraucht würden.
Ich möchte zweierlei einwenden: Zum einen halte ich jede Art von Erwartungshaltung, mit der ein leidender Mensch konfrontiert wird, und um nichts anderes handelt es sich dabei, wenn ich in Aussicht stelle, dass der Patient „sich im Idealfall irgendwann von seinen negativen Gefühlen verabschieden und dem Peiniger verzeihen muss“, für völlig contraindiziert, bevormundend und anmaßend. Zum anderen sagt uns der reine Menschenverstand, dass Schwarz-Weiß-Malerei hier wie allerorten völlig unangebracht ist und dass zwischen Hassgefühlen mit unstillbaren Rachegelüsten einerseits und völliger Vergebung respektive Absolution andererseits noch unzählige andere Möglichkeiten von Affektnuancen existieren.

Abweichende Meinungen

Wie es tatsächlich zu einer derartigen Popularität des Therapieansatzes geradezu zwanghafter Fixierung auf Vergebung kam, vermag ich nicht zu sagen. Fast ist man geneigt, anzunehmen, dass sie der politischen Geschichte mit den entsprechenden Verbrechen im 20. Jahrhundert und dem sehnlichen Wunsch der Deutschen endlich Absolution von der Welt zu erfahren, geschuldet ist. Dagegen spricht, dass – zumindest meines Wissens – in der gesamten westlichen Welt mit diesem Ansatz gearbeitet wird.
Wie auch immer, wird man in unseren Breiten wohl kaum einen Verhaltens- oder Gesprächstherapeuten, ganz gleich ob männlichen oder weiblichen Geschlechts, finden können, der nicht irgendwann im Verlauf der Behandlung durchblicken ließe, dass eine Aussöhnung mit den Eltern (Geschwistern, Ex-Partner, Mobber, Misshandler…) doch erhebliche Erleichterung bringen würde. (Dass er da mit der übrigen Verwandtschaft meistens in ein Horn bläst, macht die Sache nicht gerade leichter.) Und nur selten wird man einen Patienten finden, der im Brustton der Überzeugung entgegenhält: „Mit den Dreckschweinen rede ich nie wieder in meinem ganzen Leben ein Wort! Die haben mich so krank gemacht. Das verzeihe ich denen nie!“
Beruhigend und eine gute Entwicklung finde ich allerdings, dass gerade in jüngster Zeit auch unter Psychologen Stimmen laut werden, die völlig von diesem Konzept abgehen und deutlich sagen: „Man kann und muss nicht alles verzeihen, um gesund zu werden!“

Wichtige Phase der Genesung

Womit wir nun auch bei meiner persönlichen Auffassung und meinen Erfahrungen angelangt wären. Der Weg aus einer schweren, seelischen Krise ist lang und steil. Dabei durchläuft ausnahmslos jeder Betroffene verschiedene Phasen, die sich je nach Auslöser der Erkrankung häufig stark ähneln. Experten sagen, dass selbst die spektakuläre Phase des eigentlichen, akuten Zusammenbruchs bereits Teil des Genesungsprozesses sei, praktisch der erste Schritt der Psyche, den schädlichen Input zu unterbinden und die selbstregulierenden, schützenden Kräfte zu aktivieren. Man könnte diese Phase mit dem Auftreten von Fieber bei einer Infektion vergleichen, das nichts anderes bewirken will als die entsprechenden Mikroorganismen abzutöten. Kein ganzheitlich behandelnder Mediziner wird dazu raten, das „Ausschwitzen“ komplett zu unterbinden, es sei denn, der Patient neigt zu Fieberkrämpfen.
Ebenso dürfte die Einnahme von starken Medikamenten bei den ersten Anzeichen von seelischen Problemen den Ablauf der notwendigen Phasen einer wirklichen Genesung eher negativ beeinflussen, verzögern oder gar unmöglich machen. Wer glaubt, dass damit sein seelisches Leiden tatsächlich geheilt werden könne, irrt ganz gewaltig und wird entsetzt feststellen müssen, dass Körper und Psyche immer neue Ableitungswege, sprich Symptome, für die weiterbestehende Problematik finden werden. Eine Ausnahme mögen hier die wenigen Ausnahmefälle seelischer Störungen bilden, die definitiv allein auf chemische Ungleichgewichte im Körper zurückgeführt werden können.
Eine ähnliche Gefahr wie bei der ausschließlich medikamentösen Behandlung sehe ich auch bei der Konfrontationstherapie gegen Phobien. Auf dieses Thema werde ich aber noch gesondert an anderer Stelle eingehen.

Um auf die Phasen zurückzukommen: Der vermeintlich ersten Phase, dem Zusammenbruch, ist natürlich etwas vorausgegangen, nämlich die jahrelange Phase des Unterdrückens von Affekten, des In-Sich-Hineinfressens der traumatischen Erlebnisse und des mehr oder weniger guten Funktionierens. Die meisten Erkrankten geben sich erst als leidend zu erkennen, wenn keine ihrer erprobten Vertuschungsinstrumente mehr funktioniert und sie keine andere Wahl mehr haben als vor ihrer Verzweiflung in die Knie zu gehen. Ich gebe zu, dass die Vorstellung einige Wochen lang Tabletten einzuwerfen und sich endlich sauwohl zu fühlen, sehr verlockend ist. Aber was so lange vor sich hingegährt hat, ist – man entschuldige bitte den unästhetischen Vergleich – eine giftige, stinkende Brühe und kann nicht einfach so chemisch neutralisiert werden. Schlechte Nachricht: Die Phasen brauchten Jahre – immer, keine Chance auf simple Lösungen. Gute Nachricht: Die Mühe lohnt sich – ebenfalls immer.
Die zweite Phase der meisten neurotischen Störungen, um ruhig einmal das „böse Wort“ zu verwenden, das vielen Angst macht, aber einfach nur ein Überbegriff ist für Leiden, die mit Zwängen, Ängsten, körpersprachlichem Ausdruck (z.B. Lähmungserscheinungen oder Sehstörungen ohne organische Ursachen) und Psychosomatik zu tun haben, ist die Phase, die ich selbst „fassungsloses Erstarren“ nenne und die dann eintritt, wenn man die Ursache des eigenen Leidens und die Verantwortlichen im Ansatz zu erkennen beginnt.
Es folgt die „Verzweiflungsphase“ mit einem Gemisch aus Selbstvorwürfen, Selbsthass, tausend Fragen, auf die man keine Antworten bekommt, und dem sicheren Gefühl, „nie wieder auf die Füße“ zu kommen.
Häufig folgt der Verzweiflung tiefe Traurigkeit, die man getrost als Trauer bezeichnen kann und die den Betroffenen von den Knien oft endgültig in die Bauchlage befördert. Wie beim Verlust eines geliebten Menschen muss man Abschied nehmen: vom Selbstbild, vom Weltbild, von Trugbildern, von Illusionen und von erlernten Verhaltensweisen.

Weg vom Selbsthass

Tja, und nun wären wir also bei jenem Abschnitt der Genesung angelangt, um den es eigentlich in diesem Artikel geht. Ich bin der tiefen Überzeugung, dass jeder, der ihn endlich erreicht hat, viel geschafft hat und optimistisch sein darf: die Phase der hemmungslosen Wut, der Gewaltfantasien gegen die Verursacher der eigenen Situation, der Anklagen, des Öffentlich-Machens, des Laut-Aussprechens, des Wieder-Aufstehens und Sich-Aufbäumens… Ja, sagen wir ruhig: die Phase des Hasses. Der Betroffene hat sich, wahrscheinlich sogar unbewusst, dafür entschieden, weiterleben zu wollen. Er spürt eine Art von Lebensenergie, die er zunächst in Hass kanalisiert. Hass ist wohl unbestritten eine starke Energie und Antriebskraft. Anders als in den vorausgehenden Phasen wenden sich die Affekte des Leidenden hier aber endlich nach außen. Vielleicht empfindet er auch noch eine gehörige Portion Selbsthass und Schuldgefühle, wurde ihm dies ja systematisch von frühester Kindheit an eingeimpft, aber immerhin wird das Selbst nun – zumindest vom Verstand – nicht mehr als Auslöser der Tragödie identifiziert, gequält und bestraft. Für mich ist diese Phase, solange sie nicht wiederum von außen wie oben beschrieben mit Schuld und Scham belegt wird, der Schlüssel zur Genesung.
Man kann nicht sagen, wie lange die einzelnen Phasen andauern. Sie gehen ineinander über, verschwimmen miteinander, möglicherweise kommt es auch einmal zu einem Rückfall in frühere Phasen und entsprechende Verhaltensweisen. Aber ich denke, dass man ab dem Moment, in dem die angestaute Wut ihr wirkliches Ziel gefunden hat, nach und nach wohltuende Veränderungen im eigenen Befinden feststellen kann. Anfangs werden die Gedanken vermutlich noch ständig und mit großer Intensität um die auslösenden Personen kreisen. (Ein Zustand, der, wäre er auf Dauer angelegt, natürlich nicht gesund sein kann.) Nach einer Weile ist dann aber – ähnlich wie beispielsweise bei Panikattacken – der Zenit überschritten und eine gewisse innere Ruhe kehrt ein. Kaum ein Individuum ist in der Lage und in der Not über sehr lange Zeiträume einen brennenden Hass zu empfinden. Auch hier arbeitet unser Hirn äußerst effizient und schafft nach individuell angemessener Zeit Platz für neue Affekte, Lebensinhalte und Denkaufgaben.

Ein moralisches Recht auf Abneigung

Das von vielen Therapeuten so verpönte Hass-Gefühl wird sich meistens in eine dauerhafte, starke Aversion gegenüber den „Tätern“ wandeln. Und dazu hat es meines Erachtens auch jedes Recht dieser Welt. Zu oft kommen diejenigen ungeschoren davon, die anderen Menschen – häufig sogar bewusst – den schlimmsten Schmerz und die schwersten psychischen Schäden zugefügt haben. Könnte man nicht sogar sagen, dass es eine Frage der Vernunft und des Anstandes ist, genau diese Personen zu verabscheuen und zu meiden?!
Mein Fazit: Wer tatsächlich verzeihen kann und möchte, ohne sich selbst zu verraten und zu verbiegen, möge dies liebend gern tun. Jeder Andere aber möge sich selbst ohne Skrupel gestatten, lebenslange, tiefe Verachtung für die Missetäter zu empfinden.

© Marthe Wegner-Valentin